Politische Prozesse in Deutschland bringen mehr hervor als bloße Entscheidungen – sie erzeugen eine Flut an Vorschriften. Zehntausende Seiten davon. Erstmals macht ein neuer Index das Ausmaß dieser Bürokratie sichtbar und liefert eine analytische Grundlage für die Bewertung gesetzlicher Überkomplexität.
Eine empirische Analyse von Professor Dr. Stefan Wagner (Universität Wien), entwickelt in Zusammenarbeit mit der ESMT Berlin und der Rechtsplattform buzer.de, hat den Bürokratieindex hervorgebracht – ein transparenter, datenbasierter Indikator für das stetig wachsende Volumen der deutschen Bundesgesetze. Die Zahlen sind beachtlich: Zwischen 2010 und 2024 stieg das Volumen der Gesetzgebung um rund 60 Prozent. Trotz wiederholter politischer Bekenntnisse zum Bürokratieabbau wächst der gesetzliche Rahmen weiter, sowohl in Länge als auch Komplexität.
Im Gegensatz zu bisherigen Messungen, die sich auf subjektive Wahrnehmungen oder die Kosten regulatorischer Pflichten konzentrieren, basiert der Bürokratieindex auf einer strukturellen Messgröße: dem Umfang der Bundesgesetzgebung in Normseiten. Eine Normseite entspricht 1.500 Zeichen inklusive Leerzeichen, ein Maß, das den Textumfang unabhängig vom Layout standardisiert.
Die Datengrundlage bildet die Plattform buzer.de, die den konsolidierten Rechtsstand zum Jahresende eines jeden Jahres erfasst. Berücksichtigt werden ausschließlich Bundesgesetze – Rechtsverordnungen, Landesgesetze und EU-Vorgaben sind nicht enthalten. Seit 2006 wird die Anzahl der geltenden Gesetze sowie ihr Gesamtumfang dort in Normseiten ermittelt. Auch der Bürokratieindex ist auf das Jahr 2010 normiert (Wert: 100). Im Gegensatz zu Indizes, die etwa auf wahrgenommene Belastungen oder die Kosten von Regulierung abzielen, konzentriert sich der Index von Wagner ausschließlich auf die Struktur der Gesetzgebung. Er misst weder die öffentliche Meinung noch den Aufwand der Einhaltung, sondern den Umfang des geltenden Bundesrechts in standardisierten Normseiten.
Das Ergebnis: Bis Ende 2024 wuchs dieses auf 39.536 Normseiten – ein Anstieg gegenüber 24.775 Seiten im Jahr 2010. Auch die Zahl der Einzelgesetze erhöhte sich von 1.133 auf 1.367. Das deutet nicht nur auf mehr Gesetze hin, sondern insbesondere auf deren zunehmenden Umfang.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind beträchtlich. Laut einer Studie des ifo Instituts im Auftrag der IHK für München und Oberbayern beläuft sich der durch Bürokratie verursachte gesamtwirtschaftliche Schaden auf bis zu 146 Milliarden Euro jährlich. Die Studie schätzt, dass eine Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung auf dänischem Niveau Deutschlands jährliche Wirtschaftsleistung um 96 Milliarden Euro steigern könnte. Die Gesamtkosten der Bürokratie lägen damit weit über den 65 Milliarden Euro an direkten Befolgungskosten, die vom Nationalen Normenkontrollrat geschätzt wurden.
Diese Zahlen sind keineswegs abstrakt. Eine Erhebung des ZEW aus dem Jahr 2024 zeigt: Deutschland liegt bei der administrativen Effizienz von Exportprozessen auf Rang 20 von 21 OECD-Staaten. Für einen Standardexport sind hier 37 Stunden Bearbeitungszeit erforderlich – in zwölf anderen Ländern genügt eine Stunde.
Wagner bringt es auf den Punkt: „Die Regulierung in Deutschland nimmt nicht ab – sie nimmt zu. Dadurch wird der Standort immer unattraktiver.“
Professor Dr. Stefan Wagner
Der Anstieg des Rechtsvolumens ist nicht gleichmäßig verteilt. Besonders stark betroffen sind das Wirtschaftsrecht, das sich seit 2010 um rund 104 bis 110 Prozent vergrößert hat, und die Finanzregulierung mit einem Wachstum von 88 Prozent.
Laut Wagner sind diese Entwicklungen auf mehrere Faktoren zurückzuführen: Im Finanzsektor führten die Reformen nach der Finanzkrise 2008 zu umfangreichen Neuerungen – von Bankenregulierung über Aufsichtsstrukturen bis hin zu Transparenzanforderungen. Im Wirtschaftsrecht trugen vor allem EU-Vorgaben zum Verbraucher- und Datenschutz, zur Energiepolitik und zum digitalen Binnenmarkt zur Gesetzesflut bei – Deutschland setzt diese Richtlinien traditionell besonders umfassend um.
Auch andere Rechtsgebiete verzeichneten Zuwächse: Das Verwaltungsrecht wuchs um 54 Prozent, das Sozialrecht um 46 Prozent. Trotz moderaterer Zuwächse bleibt das Sozialrecht – insbesondere die Sozialgesetzbücher I bis XII – das umfangreichste Rechtsgebiet.
Deutschlands gesetzgeberische Entwicklung steht nicht allein: Auch andere entwickelte Volkswirtschaften erleben eine zunehmende Regulierungsdichte. In den USA umfasst das Federal Register – eine Art Maßstab für regulatorische Produktion – seit mehr als zwei Jahrzehnten über 70.000 Seiten pro Jahr. Die EU hat ihren Rechtsbestand seit den 1950er-Jahren von einigen Hundert auf über 100.000 Seiten verbindlicher Vorschriften ausgedehnt (Acquis Communautaire).
Was Deutschland unterscheidet, ist die Gründlichkeit der Umsetzung.
Wagner betont: Deutschland setze EU-Richtlinien „gründlicher als andere Mitgliedstaaten“ um, oft mit zusätzlichen nationalen Anforderungen. Hinzu kommen neue, komplexe Politikfelder wie Klimaschutz, Datenregulierung oder digitale Compliance, die ebenfalls zum enormen Wachstum beitragen.
Von Martin Rulsch, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0, Link zur Datei
Die zunehmende Belastung durch Bürokratie hat politische Konsequenzen. Die neue Koalition aus CDU/CSU und SPD hat ein „Sofortprogramm Bürokratieabbau“ angekündigt – ein Maßnahmenpaket mit dem Ziel, regulatorische Lasten messbar zu senken:
Diese Vorhaben sind ambitioniert. Doch Wagners Daten zeigen: In der Vergangenheit folgten auf solche Ankündigungen nicht selten neue Gesetze. Der Widerspruch zwischen politischer Absicht und realer Entwicklung bleibt eine Herausforderung.
Hier zeigt sich eine vertraute Ironie: Gesetze, die eigentlich der Vereinfachung oder Modernisierung dienen sollen, schaffen oft neue Komplexitätsebenen. Eine neue Berichtspflicht hier, eine Compliance-Checkliste dort – über die Jahre sammeln sie sich an. Die Reduzierung von Bürokratie war auch eines der erklärten Ziele der Ampel-Regierung – dennoch stieg der Index verglichen mit dem Vorjahr um rund zweieinhalb Prozent. Das Ergebnis ist ein System, in dem fast 40.000 standardisierte Rechtsseiten definieren, wie der deutsche Staat funktioniert.
Der Bürokratieindex bewertet nicht, ob Gesetze notwendig oder gerecht sind. Er ist kein politisches Urteil, sondern ein neutrales Instrument, das den Umfang der Regulierung sichtbar macht. Genau darin liegt sein Wert.
Wagner beschreibt den Index als eine Art „Frühwarninstrument“ – ein Indikator dafür, wie stark und wie schnell die Gesetzgebung wächst. Perspektivisch soll der Index weiterentwickelt werden:
Der Index ist damit nicht nur Statistik, sondern ein Spiegel für den Zustand staatlicher Steuerung. Er wirft die zentrale Frage auf: Wächst die Regulierung schneller, als wir sie noch sinnvoll gestalten und kontrollieren können?
Der Bürokratieindex gibt keine Handlungsempfehlungen, aber er hält Deutschland den Spiegel vor. Ob und wie das Land reagiert, bleibt abzuwarten.